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Das nennt man Timing! Ausgerechnet jetzt, wo in Deutschland die Debatte um die Atomkraft mit allen Finten betrieben wird, taucht Greta Thunberg auf und mischt sich ein. Haut ihren grünen Freunden in Deutschland ein böses Brett vor die Stirn und springt der von Grünen eh längst für lästig erklärten FDP bei.

Wer in der Google-Suche die Worte „Thunberg Germany Nuclear“ eintippt, bekommt in der News-Ansicht annähernd 100.000 Ergebnisse angezeigt. Medien auf dem ganzen Globus berichten.

„Tunberg Says ‚Mistake‘ For Germany to Use Coal Over Nuclear“ – France 24.

„Coal worse than nuclear plants: Thunberg“ – Blue Mountains Gazette.

„Move over, Greta: new influencer makes nuclear cool.“ – The Australien.

Und so weiter.

Die Welt kopiert nicht Deutschland, die Welt isoliert Deutschland

Nicht die Grünen schicken ihre frohe Kunde vom deutschen Energiewendewunder um die Welt, als das aller Herren Länder selig dasselbe täten. Nein: Greta sendet eine Botschaft an die deutschen Grünen, und zwar via Maischberger in deutlicher Vernehmbarkeit überall auf dem Globus. Völker der Welt, schaut auf diesen Habeck!

Natürlich ging das dann sofort social viral. Greta und Atomkraft – besser geht nicht.

Es gab Spott, Häme und Applaus. Natürlich auch und gerade von Leuten, die sonst keine Greta-Fans sind. Darüber mokierten sich Atomkraftgegner. Das sei ja Rosinenpickerei. So in der Art hatte ich es zahlreich in meiner Timeline.

Greta-Verächter freuen sich über Gretas Verrat. Na und?

Sie übersehen, dass mit Greta eine aus dem grünen Lager das eigene grüne Lager düpierte. Von innen heraus. Genau darum tut es auch so weh. Und genau darum ist die Schadenfreude so groß.

Dabei war das nicht das erste Mal. Vor längerer Zeit hatte Thunberg schon einmal Kohle und Kernkraft verglichen und Kernkraft als ungefährlicher bezeichnet.

Das war bei einem Auftritt mit Luise M. Neubauer. Neubauer widersprach damals Thunberg, die das geschehen ließ. Der Vorfall zog keine größeren Kreise. Das Thema Atomkraft war zu der Zeit abgehakt – im Sinne von: Vollständig erledigt und bei den Akten. Eine wahrnehmbare Debatte über Kernkraft gab es nicht in Deutschland. Merkel hatte das Thema ein für allemal erledigt.

Ökomodernisten reden längst mit, jetzt endlich auch hier

Dachten jedenfalls alle. Und bekamen darum erst spät mit, dass sie falsch lagen.

In den USA wechselte ein großer Teil der Ökobewegung ins Pro-Atomlager, als der Klimawandel in den Fokus geriet. Einer der Gurus dieser „Ökomoderne“ ist Steward Brand. Auch in Deutschland hatten ein paar Atom-Einsiedler überlebt, etwa Leute aus der Szene der Piratenpartei im Verein Nuklearia oder die Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland. Auch sie wägten Risiken ab – Kernkraft versus Klima. Auch sie befanden: Kernkraft hilft.

Und jetzt, man hätte es noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten, geht genau diese Bewegung durch die Decke. Mit Merz, Industrie und Teilen der Gewerkschaften. Sogar mit Markus Söder, der vor elf Jahren mit Rücktritt von seinen Ämtern drohte, sollte die Union nicht den Ausstieg aus der Atomkraft beschließen, mithin eines durchaus Mitverantwortlichen für die heutige Misere.

Sie hat sich nicht versprochen. Sie meint das.

Und jetzt auch noch Greta. Ausgerechnet Greta. Unser aller Idol. Wir haben sie jahrelang auf Händen getragen. Sie verehrt. Waren sogar ein bisschen stolz, sie zu einer Ikone zu machen. Einem Wahrzeichen. Eines, das uns Sinn stiftet. Uns einen Platz in der ganz großen Welt verschafft. Greta hat ja vor der UNO gesprochen. Unsere Greta.

Die sich – leider auch heute – jedes Wort gut überlegt. Die routiniert ist im Umgang mit Medien aller Art. Die weiß, wann welcher Satz wirkt. Wobei egal ist, ob sie Berater um sich hat oder sich jeden Gedanken selber macht. Und darüber, wie sie ihn an den Mann bringt.

Da war Maischberger eine grandiose Idee. Der Clip, der ab Mittag via Twitter viral ging, dürfte mit Greta abgesprochen gewesen sein, das ist bei solchen Formaten üblich. Grüne Minister, Vorstände und Abgeordnete dürften ungläubig auf ihre Bildschirme gestarrt haben. Sie mögen gehofft haben, Greta habe sich verplappert. Sie würde das klarstellen. Aber nichts. Denn Greta verplappert sich nicht. Sie weiß, was sie tut.

Der Druck auf Habeck & Co. steigt jetzt massiv

Die Freude – zugegeben: auch Häme – gegenüber den verklappten Grünen war darum schon verständlich. Natürlich waren das viele, die vorher Greta verspotteten oder vollkübelten. Das ändert aber nichts daran, dass die sich über einen fetten Widerspruch mitten im Innern der Grünen und ihrer Bewegung freuen. Und sorry, logisch freuen sich politische Gegner der Grünen über einen grünen Fail. Was denn sonst, bitte?

Vermutlich wird der Jubel noch lauter, wenn sich herumspricht, was Gretas Botschaft international bedeutet.  Im Ausland, und zwar annähernd global, sind die Deutschen, speziell deutschen Grünen in Energiefragen nämlich annähernd isoliert. Mir fallen nur die Belgier ein, die da noch mitgehen. Sonst niemand. Weder andere grüne Parteien noch – erst recht – andere Regierungen.

Aus Frankreich, den Niederlanden oder Polen gab es sogar offene Kritik am deutschgemachten Anteil an der europäischen Stromknappheit, was überall die Preise steigen lässt.

The Medium is the Message

Und in dieser angespannten Lage erscheint Greta. Die weltweit noch einmal den Chor der ganzen Welt gegen deutsche Energiepolitik anschwellen lässt.

Typisch für Greta ist ja, dass sie mit Bedacht spricht und ihre Worte darum immer wirken. Das kann niemand bestreiten, auch und gerade die nicht, die sich verzweifelt fragen, warum eine schwedische Jugendliche ohne Beruf und Erfahrung ständig in Nachrichten ernst genommen wird. Die Antwort darauf: Darum. Sie funktioniert als Medium.

Grüne in der Zwickmühle

Und als solches funktioniert sie super, 55.000 Einträge bei Google News in ein paar Stunden. Glückwunsch. Das schaffen nicht viele.

Den Grünen hat Greta damit eine böse Falle gestellt.

Bleiben Sie beim Atomausstieg, dann stellen sie sich gegen Greta und den Teil der Szene, der loyaler zu ihr steht als zu den deutschen Grünen. Sowas kann mit Spaltung enden, wenn man nicht aufpasst.

Und der womöglich progressivere, jüngere und aggressive Flügel könnte Ökostrom ganz anders definieren als die altgrünen Herren Habeck und Trittin. Womöglich würde Vero Wendland bei Greta-Freunden mitmachen, womit die dann nicht nur revolutionäres Feuer, sondern auch jede Menge technischen und politischen Sachverstand hätten.

Geben die Grünen dagegen Greta nach und werden plötzlich Atompartei, dann zerlegt es sie sowieso. Der Machtflügel ist viel zu verknöchert und arrogant, um die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Schweden führt die anti-deutschgrüne Fraktion

Anders, als die schwedischen Mitgrünen. Einer von denen, Taake Aanstoot, hatte schon vor ein paar Wochen dem deutschgrünen Minister Habeck gedroht, er könne ja im schwedischen Parlament darüber abstimmen lassen, die Stromleitungen von Schweden nach Deutschland zu kappen – als Vergeltung für das unsolidarische Abschalten der Kernkraftwerke und die eigene Verantwortung für die Stromknappheit.

Aanstoot teilte am Tage der Greta-Atombotschaft einen deutschsprachigen Tweet eines Accounts namens Replanet_DACH. Er fordert die deutsche Sektion von Friday For Future auf, endlich Kernenergie zu befürworten.

Diese Schweden. Als hätten sie sich abgesprochen.

Bayerns Staatsregierung möchte herausfinden, ob Globuli als Ersatz für Antibiotika taugen. Das scheint sich als ziemlich schwierig zu erweisen. Geld ist da, 1,4 Millionen Euro, und auch ein Team von Wissenschaftlern, die es gern ausgeben würden – aber bisher nicht wissen, wie sie eine Studie gestalten sollen, die einerseits die Politiker zufriedenstellt, andererseits den wissenschaftlichen Ruf nicht zu sehr ramponiert.

Um eingangs noch einmal die Basis zu legen: Homöopathie ist, wenn Apotheker z.B. ein Mittel gegen Grippe verkaufen, weil ein französischer Lazarettarzt im 1. Weltkrieg meinte, in seinem optischen Mikroskop grippeauslösende Mikroben entdeckt zu haben. Woraus wiederum irgendjemand schloss – wer und warum auch immer –, dass diese Mikroben besonders häufig in Entenlebern vorkämen.

Hä? Genau!

Viren mit Schülermikroskop entdeckt

Deshalb stellen Homöopathie-Produzenten Mittel aus Entenlebern und – klar, logisch – auch aus Entenherzen her. Mittel, von denen sie auf Basis der lazarettärztlichen Mikroskopie behaupten, sie wirkten gegen die Grippe, und zwar die echte, manchmal tödlich verlaufende.

Für dieses Mittel pulverisieren sie die Entenorgane und verdünnen sie so stark, dass pro Fläschchen kaum mal ein einziges Entenleber oder -herzmolekül vorhanden ist, was aber egal ist, weil sich das Wassergedächtnis das Entenklein merke und darum die Wirkung des entischen Bakteriums dem Globuli-Gläubigen mitteile.

Blöd an der Story ist allerdings schon der allererste Anfang. Grippe wird bekanntlich von Viren ausgelöst. Viren sind jedoch zu klein, als dass man sie mit optischen Mikroskopen sehen könnte. Das geht nur mit Raster-Elektronenmikroskopen, und die gab es im ersten Weltkrieg noch nicht, auch nicht in Feldlazaretten, nicht einmal in französischen.

Wer mir nicht glaubt: Hier die Details zur Vorgeschichte.

Damit zurück in die moderne Gegenwart, genauer: ins Jahr 2019. Da beschloss der bayerische Landtag, die Wirkung von Homöopathie bei akuten Entzündungen wissenschaftlich überprüfen zu lassen.

CSU, Freie Wähle und Grüne stimmen für Eso-Eselei

Konkret lautet der Auftrag, herauszufinden, ob Globuli anstelle von Antibiotika gegeben werden könnten. Denn dann könne man den Einsatz von Antibiotika reduzieren und womöglich Antibiotika-Resistenzen vermeiden.

Eingebracht hat den Antrag der damalige Staatssekretär, inzwischen zum Minister aufgestiegene Klaus Holetschek. Seine CSU sowie Freie Wähler und Grüne hatte er dabei auf seiner Seite. 

Seitdem ist in der Sache nicht viel passiert. Nicht nur, dass zwei Jahre nach dem Landtagsbeschluss noch kein einziges Resultat vorliegt. Es gibt bisher noch nicht einmal ein Konzept für eine Studie, mit der sich die von den Gesundheitspolitikern gewünschten Erkenntnisse gewinnen ließen.

Holetschek-Ministerium: Wir haben ein Studienkonzept!

Fragen dazu beantwortet Holetscheks Ministerium nur zögerlich. In der ersten Antwort, die ich von seinem Haus erhalte, steht, „dass derzeit die Pandemiebekämpfung im Vordergrund steht“ und die Fachabteilungen des Ministeriums darum „sehr gefordert“ seien, man bitte um Verständnis. Immerhin scheint aber ein Interview mit Minister Holetschek möglich. Die Sprecherin erkundigt sich, wann man das führen möchte.

Zur Sache teilt das Ministerium dann auf Nachfrage nach einigen Tagen mit: „Die Studienkonzeption ist abgeschlossen“. Das allerdings stimmt nicht, wie sich wenig später herausstellt.

„Es müssen alle Register gezogen werden“

Den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren – das wäre für sich genommen eine gute Idee. Minister Holetschek bemüht sich darum nach Kräften, sein esoterisches Homöopathieprojekt mit seriöser medizinischer Rhetorik aufzupeppen.

Im Landtag heißt es in einem weiteren vom ihm und Kollegen initiierten Antrag, multiresistente Keime – also Erreger, die sich auch von unterschiedlichen Antibiotika nicht mehr bekämpfen lassen – könnten bis zum Jahr 2050 „Krebs als zweithäufigste Todesursache abgelöst haben“.

Darum müssten jetzt „alle Register gezogen“ werden. Im Dezember 2021, ein Jahr nach dem ursprünglichen Studienauftrag, stockte der bayerische Landtag auf Holetscheks Antrag das Budget von ursprünglich knapp einer Million auf knapp 1,4 Millionen Euro auf. Tatsächlich dürfte der Grund wohl darin liegen, dass die knappe Million nicht genügte, um Wissenschaftler auf ein Projekt zu setzen, mit dem sie wissenschaftlich nur verlieren können.

Aber für 1,4 Millionen ließ sich dann doch was machen. Inzwischen steht fest, wen die Politik mit der Durchführung der Studie beauftragt. Es ist ein Team der Technischen Universität München (TUM) und des zur TUM gehörenden Klinikums rechts der Isar. Projektzeitraum laut Holetschek-Ministerium: ab Beginn dieses Jahres bis zum 31. Dezember 2023.

Weitere Auskünfte könnten die Projektbeteiligten geben, schrieb die Ministeriumssprecherin.

Holetschek-Ministerium irrt: Doch noch kein Studienkonzept

Können sie aber nicht.

„Unsere Wissenschaftler sind noch dabei, die Studie zu konzeptionieren“, schreibt TUM-Sprecher Ulrich Meyer. Das überrascht, denn das Holetschek-Ministerium hatte ja mitgeteilt, die Konzeption sei bereits abgeschlossen. Was stimmt jetzt? Gibt es ein Konzept für die Studie oder gibt es keines? 

Das Ministerium antwortet auf weitere Nachfrage: „Wir haben nochmal nachgehakt“, schreibt die Sprecherin. „Die IHOM-Studie wird am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München durchgeführt. Wir schlagen vor, sich mit diesen Informationen noch einmal an die dortige Pressestelle zu wenden.“ 

Studienkonzept vielleicht im Frühjahr?

Was dann aber auch nichts Neues erbringt: „Wie bereits mit meinem TUM-Kollegen Ulrich Meyer besprochen, können wir Ihnen gern im kommenden Frühjahr entsprechende Auskünfte geben“, schreibt Barbara Nazarewska, Sprecherin des Klinikums rechts der Isar. Es bleibt also dabei: Bisher ist völlig unklar, wie die politisch wohl erhoffte Wirksamkeit von Globuli gegen gefährliche Keime nachgewiesen werden könnte, auch, wenn das Ministerium etwas anderes mitteilt.

Hört man sich bei Mitarbeitern der TUM um, dann ahnt man, wo das Problem liegt. Namentlich zitieren lassen will sich niemand. Der Auftrag sei politisch gewollt und wissenschaftlich unseriös, heißt es. Es gebe längst genügend Studien über die (Nicht-) Wirksamkeit von Homöopathie. Zum Studienauftrag sei es darum nur schwer möglich, eine seriöses Design zu entwickeln, das auch ethischen Grundsätzen entspreche. 

So müsse die Studie randomisiert und doppelblind sein – sprich: Die Auswahl der Teilnehmer zufällig, wobei weder die Teilnehmer noch die Ärzte wissen dürfen, welche Patienten Antibiotika und welche Globuli verabreicht bekommen.

Globuli gegen Globuli testen – was mag da nur rauskommen?

Das werfe auch ethische Bedenken auf.  So dürften Patienten, für die Antibiotika womöglich lebensnotwendig seien, keinesfalls an der Studie teilnehmen. Sie könnten sterben, wenn sie als Studien-Probanden ein homöopathisches Zuckerkügelchen erhielten – dessen Wirksamkeit anders als bei neuentwickelten pharmazeutischen Präparaten seit Jahrzehnten als widerlegt gilt. 

Außerdem sehen sich die Entwickler mit der Frage konfrontiert, wie sie den Vergleich zwischen einem homöopathischen Präparat und einem quasi offiziellen Placebo messen sollten. Nach dem Stand der Wissenschaft würden sie damit ein homöopathisches Placebo mit einem allseits als Placebo akzeptierten Präparat vergleichen. 

Entsprechend scharf fällt die Kritik von Homöopathie-Kritikern am Vorgehen der bayerischen Gesundheitspolitiker aus. „Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung zur Homöopathie zeigen allesamt, dass die Homöopathie nicht über Placeboeffekte hinaus wirkt“, sagt Norbert Aust, Sprecher des „Informationsnetzwerk Homöopathie“. „Dass man nun noch einmal öffentliche Mittel dafür aufwenden will, ist mit einem rational arbeitenden Verstand nicht zu erfassen.“ 

Ärzteverbände schweigen vorsichtshalber

Aust kritisiert auch die Technische Universität München. Dass die sich für die Studie hergebe, zeige, „wie weit die Wissenschaft bereits von der Notwendigkeit zur Einwerbung von Drittmitteln korrumpiert ist.“ Zu hoffen sei, dass die „zuständige Ethik-Kommission dieses Vorhaben ablehnen wird.“

Keine Stellungnahme wollten Bundes- und bayerische Ärztekammer abgeben. Auch die kassenärztliche Vereinigung, die sich in der Vergangenheit eher homöopathiekritisch äußerte, lehnte einen Kommentar ab.

Und das Angebot für ein persönliches Interview mit Minister Holetschek zog das bayerische Gesundheitsministerium nach meinen wiederholten Nachfragen zur Sache zurück.

Hinzufügen möchte ich eine weitere Erkenntnis, die meine Recherche erbrachte. Im Ministerium Holetschek glaubt man offensichtlich, Homöopathie helfe nicht nur gegen bakterielle Infekte, sondern auch Schäden des Corona-Virus.

Holetscheks Schwurbel-Referat macht jetzt was mit Long Covid

Darauf kam ich, als ich mich über die ausweichende erste Ausrede ärgerte, in der das Ministerium mal lässig die große Aufgabe der Pandemiebekämpfung als vorgeschaltete Entschuldigung für unwilliges Antworten ins Spiel brachte. Ich erlaubte mir dreisterweise, die darin enthaltene Aussage ernst zu nehmen.

Also: Das Ministerium schrieb, es könne eine Weile dauern, bis ich eine Antwort bekäme, weil die Fachabteilung alle „mit der Pandemiebekämpfung“ beschäftigt seien.

Alle? Zufällig weiß ich, dass Minister Holetschek noch zu seiner Zeit als Staatssekretär ein spezielles Referat für Alternativmedizin und ähnlichen Quark einrichtete, ausdrücklich auch für Homöopathie, das Referat 74 im bayerischen Gesundheitsministerium. Also wollte ich wissen, ob auch das Referat 74 gerade mit Pandemiebekämpfung beschäftigt sei.

Darauf antwortete die Pressestelle erstmal nicht, weshalb ich explizit nachfragte:

Nachfragen möchte ich auch noch einmal der Klärung halber zur Rolle des Referats 74 bei der Pandemiebekämpfung: Habe ich Sie da richtig verstanden und das Referat hat mit Corona zu tun und welche Rolle spielt es dabei ggf.?

Darauf erhielt ich folgende Auskunft:

Zu Referat 74 darf ich Ihnen mitteilen, Sie können nicht-namentlich „eine Ministeriumssprecherin“ zitieren.
„Grundsätzlich sind fast alle Referate des Hauses in der ein oder anderen Form mit der Pandemie-Bekämpfung befasst. Dazu gehört auch das Thema Post-COVID/Long-COVID.“
Wundert sich noch jemand? Immerhin empfiehlt ja auch der Apotheker des, äh, jedenfalls nicht Vertrauens Globuli gegen Corona.
Dieser Text ist ein Zwischenstand einer andauernden Recherche.

Mit dem Klimawandel verhält es sich so: Die, die am meisten darüber wissen, fürchten sich am stärksten. Mit Atomkraft verhält es sich so: Die, die am meisten darüber wissen, fürchten sich am wenigsten.

Aus: Stewart Brand, Whole Earth Discipline, 2009

Gibt es irgendwo auf der Welt eine Panne in einem Atomkraftwerk, ist auf deutsche Medien Verlass. Wie dieser Tage, als irgendwas im Reaktor von Taishan passiert sein soll. Ein Ort, dessen Namen die meisten in Deutschland noch nie gehört haben dürften. Taishan liegt in Südchina. Da drohe „eine unmittelbare radiologische Bedrohung“, wie Christoph Seidler, Wissenschaftsredakteur des Spiegel, sorgenvoll notiert und sich dabei auf CNN beruft. ( -> Quelle).

„Experten sind besorgt über AKW-Panne in Chinas wichtigstem Industriezentrum“, titelt Benedikt Fuest, nicht minder angespannt, für die Welt (-> Quelle). China spiele die Panne herunter. Die in der Überschrift versprochenen Experten fehlen leider im Kleingedruckten, jedenfalls sorgenvolle. Es finden sich nur „Experten“ der Betreiber, die sich freilich nicht sorgen, sondern Entwarnung geben. Der Meiler laufe innerhalb der vorgesehenen Werte.

Da wäre mehr drin gewesen, denn es gab durchaus Experten, die leicht aufzufinden waren.

Einer von ihnen ist Mark Nelson. Nelson lebt in Santa Fe im US-Bundesstaat New Mexico und verfügt über eine beeindruckende Vita. Er hat einen MPhil der Universität Cambridge in Nuklearenergie. Mit dem Titel MPhil darf sich schmücken, wer ein Forschungsstudium an einer englischen, amerikanischen oder australischen Uni erfolgreich absolviert hat. Er ist außerdem Ingenieur für Flugzeugtechnik und Mechanik, studierte Russisch in Oklahoma, lebte einige Jahre in Russland und Tadschikistan, arbeitete dort u.a. in einer Hosenfabrik und forschte am Los Alamos National Laboratory in den USA. Derzeit, so schreibt er in seiner Vita, beschäftige er sich schwerpunktmäßig mit Fragen um die klimaverträgliche Energiegewinnung. Ihn interessierten schwerpunktmäßig die Elektrizitäts-Systeme in Deutschland und Frankreich ( -> Quelle).

Zu Taishan wusste Nelson auf Twitter mitzuteilen, wie der Reaktor dort beschaffen sei und worin höchstwahrscheinlich das Problem liege. Es seien in geringer Menge Edelgase ausgeströmt. Das deute auf eine undichte Stelle an einem Brennstab. In so einen Brennstab, hergestellt aus Zirkonium, würden die energiereichen kleinen Nuklear-Pellets gefüllt. Die bestünden aus einem Keramik-ähnlichen Material – wobei er in seinem Thread dazuschrieb: Genau, Keramik, wie bei einer Kaffeetasse. Vorteil: Das Material sei ausgesprochen hitzebeständig. Nachteil: es sei zerbrechlich. Früher seien ständig mal Pellets gebrochen oder hätten Risse bekommen. Heute komme das nur noch selten vor, aber man könnte das eben nicht ganz vermeiden (wobei modernere Reaktor-Typen anders beschaffen sind und das Problem dort grundsätzlich nicht auftreten kann).

Die typische Konsequenz sei, dass Edelgase aus dem Brennstab strömten. Die seien zwar teils durchaus radioaktiv, was aber nicht besonders schlimm sei. Edelgase – wer Chemie hatte, erinnert sich vielleicht – reagieren nur sehr träge oder gar nicht mit anderen Elementen. Wer ein paar Moleküle einatme, der atme sie auch wieder aus, schreibt Mark Nelsen. Wie das eben so sei mit Edelgasen.

Von Anfang an war klar: Im Atomkraftwerk Taishan kam niemand zu Schaden

Nelson verlinkt dann auch zu einem Tweet von CNN. US-Behörden würden sich die Sache anschauen, aber noch kein Krisenlevel sehen, heißt es darin. In deutschen Redaktionen scheint dieser CNN-Tweet nicht angekommen zu sein, jedoch immerhin der ausführliche CNN-Artikel, in dem sich dieser Satz findet. Genau den verlinkt Christoph Seidler in seinem Spiegel-Bericht ( -> CNN-Artikel) – wohl eher in der Hoffnung, dass niemand ihn klickt oder zu gründlich liest. Denn die Einschätzung der US-Regierung, von Krise könne keine Rede sein, verschweigt Seidler.

Hätte er das getan, hätte sich der sorgenvolle Sound seines Textes auch zerlegt. Seidler schreibt:

Man muss nur einmal auf die Landkarte schauen, um sich zumindest ein paar Sorgen zu machen: Zeichnet man einen Kreis mit einem Radius von umgerechnet rund 150 Kilometern um den chinesischen Atommeiler Taishan, finden sich darin unter anderem diese Megastädte: Guangzhou (rund 20 Millionen Einwohner), Shenzhen (12 Millionen), Foshan (7 Millionen) und Hongkong (7,5 Millionen). Genau auf dieses Kraftwerk im Zentrum dieses Kreises richten sich gerade die Blicke von Experten wegen eines möglichen Problems – auch wenn sich aktuell kaum seriös sagen lässt, wie groß die Gefahr tatsächlich ist.

Immerhin lässt sich in Seidlers Text bei aufmerksamem Lesen nachvollziehen, dass der Vorfall offenbar schon mehrere Tage alt war und dass CNN ihn deshalb exklusiv vermelden konnte, weil die US-Regierung von einer der beiden Betreiberseiten des Kraftwerks darauf aufmerksam gemacht wurde. Der Reaktor wird von einer chinesischen Firma betrieben und wurde gemeinsam mit der französischen Framatom gebaut. Framatom ist weiter für die Wartung mitverantwortlich. Gegen China bestehen freilich US-Sanktionen wegen der Unterdrückung der Uiguren und anderer Minderheiten. Framatom bat die US-Regierung offenbar deshalb, in China aushelfen zu dürfen, um sich für Unterstützung Chinas nicht auch Sanktionen einzufangen.

Atomkraft Doel bei Antwerpen

Energie ohne klimaschädliches CO2: Atomkraftwerk Doel bei Antwerpen in Belgien

Tatsächlich passiert war in Taishan jedoch:  nichts – wieder mal nichts, wie das meistens so ist, wenn deutsche Medien sorgenvoll ihre nuklearen Angstpsychosen pflegen. Die chinesische Provinz Kanton und Hong Kong blieben unbehelligt. Kein Arbeiter im Atomkraftwerk bekam eine zu hohe Strahlendosis ab. Nirgendwo radioaktiver Fallout. Es war ein kleiner Zwischenfall, wie er mal passieren kann, jedoch routinemäßig und ohne viel Mühe gelöst wird. Nichts war außer Kontrolle geraten. Es war wieder nur eine dieser Stories, die die diffuse Angst vor der Atomkraft am Köcheln halten sollen.

Selbstverständlich haben weder Seidler noch Fuest die Sache weiter verfolgt und ihr Publikum darüber aufgeklärt, ob und wie das Problem erledigt wurde und wie klein es überhaupt war. Das geschieht nie nach solchen Vorfällen. Medial finden sie nur statt, solange die Lösung noch offen ist, sich also der GAU, gar der Super-GAU als Unhappy End herbeiphantasieren lässt. Das reale Happy End im Atomkraftwerk findet in Medien nicht statt.

Der Nazi, Esoteriker, Ökobauer und Grünen-Gründer, der den Deutschen die Angst vor Atom- und Gentechnik beibrachte

Baldur Springmann bei Grüne

Öko-Bauer und Altnazi Baldur Springmann mit Anti-Atom-Button bei Grünen-Parteitag: Seine Reden prägen bis heute das Angst-Narrativ zur Atomkraft

Das dürfte mit der Grundstimmung in Deutschland zu tun haben, die ein wenig speziell ist. Ende der 1970er Jahre entdeckten die linken 68er den Umweltschutz als neues Mobilisierungsthema. Die Kritik an sozialen Folgen der Industrialisierung wurde auf die Folgen für die Natur erweitert. Einer der Köpfe der Grünen-Gründer war Baldur Springmann – freundlich lächelnder Rauschebart mit Kittelhemd, früherer SA-Mann, Mitglied des Reichsnährstandes (das sind die, die das Schwarzbrot propagierten, eine typisch deutsche Meise bis heute), vermögender Erbe einer Metallfabrik im Ruhrgebiet, Großbauer in Mecklenburg in der NS-Zeit, erster Ökobauer Westdeutschlands in Schleswig-Holstein in den 1950er Jahren.

Man mochte es diesem verschrobenen wirkenden Mann nicht zutrauen, aber er hatte machtstrategisch was drauf und dachte schon damals ganz ähnlich wie später Angela Merkel, speziell aber die Grünen bis heute.

Ich denke, dass die andere sehr große Machtzentrale, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, die Medien sind. Da lag wahrscheinlich ein richtiger Ansatzpunkt. Ich habe die Erfahrung gemacht, auch damals, als ich parteipolitisch tätig war, wie die Medien aus mir etwas ganz anderes gemacht haben als meine eigenen Parteifreunde. Von den Journalisten gab es ganz viele, die viel besser begriffen hatten, was ich wollte, als eigene Parteimitglieder. Die haben versucht, sehr viel von meinen Ansichten zu verbreiten. […] Weißt Du, wie meine politische Laufbahn angefangen hat? Ich hatte keine Ahnung von nichts. Ich bin nach Hamburg gefahren und habe mich durchgefragt. Die haben mich alle veräppelt und ausgelacht. Ich habe gesagt, ich wolle ins Fernsehen und den Leuten was erzählen (lacht). Zuletzt habe ich eine Frau gefunden, die hat eine Reportage gemacht, die war ganz prima. Und das war mein Einstieg, sonst hätten meine Freunde mich gar nicht gekannt, so konnte ich die Grünen gründen.

Baldur Springmann in: Es liegt an uns, alles zu ändern, Raum & Zeit 62/93

Schöne Entdeckung, das mit den Medien. Und es funktioniert ja auch. Heutige Grüne würden manches vielleicht anders formulieren als Springmann. Aber Sätzen wie diesen würden sie in der Sache zustimmen:

Wenn wir das ganze Erdenleben mittragen und für seine Zusammenhänge und seine Gesundheit sorgen, dann sorgen wir für uns selbst am besten. Das ist die Grundlage. Und wenn das die Grundlage unseres Denkens ist, dann ergeben sich ganz logischerweise auf allen Gebieten totale Änderungen unserer Handlungen. Dann ist es z.B. unmöglich, irgendwelche Dinge zu tun, von denen wir nicht wissen, wie sie sich auswirken werden. Ein Kernkraftwerk ist immer ein gutes Symbol dafür. Das ist so dieser Kitzel, dieser Reiz. Großartig, dass wir das schon können. Genmanipulation ist so etwas Ähnliches. Da haben wir jetzt schon angefangen mit etwas, das vielleicht gar nicht so schlimm ist, aber das einfach noch nicht zu Ende gedacht ist. Das ist so, als wenn wir ein Flugzeug bauen und haben noch keine Landeklappen und keine Räder zum Landen, denn wir sind so ungeduldig: Piloten und Passagiere sagen, nun flieg mal los, es wird uns schon was einfallen, wie ihr wieder landen könnt. So ist es mit allen Dingen: Man darf das nicht machen, bevor man nicht weiß, wo man mit der Scheiße bleibt, die dabei anfällt.

Baldur Springmann, ebd.

Ziemlich schiefes Bild. Falsch ist daran schon, dass ein Flugzeug ohne Räder erst gar nicht starten könnte. Landeklappen dagegen sind tatsächlich weder zum Starten noch zum Landen zwingend nötig. Die Höhenruder am Heck genügen vollauf. Aber Angst beruht ja gerade auf Unwissen. Auch diesen Satz würden heutige Grüne vermutlich immer noch unterschreiben oder wenigstens wohlwollend tolerieren:

Ob das Wort Bauer noch stimmt, möchte ich bezweifeln. […] Es gibt nur noch einen Agraringenieur, das heißt einen, der wie ein Ingenieur manipuliert auf dem Sektor Natur. Und was die studieren, ist pflanzliche und tierische Produktion, das heißt, die Tiere und die Pflanzen sind Produktionsmittel. Wie Maschinenteile, das ist ihnen eingehämmert worden von diesen Wissenschaftlern.

Baldur Springmann, ebd.

Diese Wissenschaftler! Da klingt Baldur Springmann wie der heutige Ken Jebsen. „Follow the Science“ wäre eher nicht sein Motto gewesen. Aber das ist das Motto der Grünen auch nur zu einem einzigen Thema, nämlich dem Klimawandel. Und auch da meinen sie das in konsequent antiwissenschaftlicher Politisierung. Luisa Neubauer etwa argumentiert gern fehlerhaft-empirisch und ad hominem: Stets hat sie irgendeine Zahl oder eine Korrelation zur Hand, nie aber eine Ursache-Wirkung-Kausalität. Das war bei Elvis Presley schon so: Millionen Fans können nicht irren, hieß es. Also sagt Neubauer, auch 30.000 Wissenschaftler könnten nicht irren. Nicht, weil die Wissenschaftler recht haben (was durchaus möglich ist), sondern weil es 30.000 sind.

Ansonsten ist Neubauer ganz bei Springmann, der Rest der Grünen ist es auch, ebenso die SPD, CDU und CSU, auch die studierte Physikerin Angela Merkel und der Populist Markus Söder. Atomausstieg ist deutscher Nationalkonsens und deutscher Sonderweg. Dass der Atomausstieg freilich dem Ziel der CO2-Reduktion und damit des Klimaschutzes frontal zuwiderläuft, wird ebenso konsensmäßig als lästiger Sachzwang weggedrückt.

Springmann und die Grünen haben nach Jahrzehnten mit Medienhilfe die Atomkraft politisch zerstört

Kein anderes Land ist derart realitätsfern. In Europa etwa vertreten die finnischen Grünen einen konsequenten Pro-Atomkurs – worüber deutsche Medien nicht berichten, durchaus aber der schweizerische öffentlich-rechtliche Rundfunk. Dort findet sich ein Zitat des grünen Parlamentsabgeordneten und Klimaforschers (!) Atta Harjane ( -> Quelle):

Wir befürworten jetzt alle kohlenstoffarmen Energiequellen, dazu gehört auch die Nuklearenergie.

Harjane und Finnland bewegen sich damit in bester globaler Gesellschaft. Seit Jahren nimmt die Pro-Atomfraktion der Ökobewegung immer mehr Fahrt auf. Ausgelöst wurde die Wende wohl in den USA. Einer der Wortführer ist Stewart Brand, frühere Hippie-Ikone, Herausgeber des Whole Earth Catalog, ein Werk, das Apple-Gründer Steve Jobs als eine Art Google in Papierform vor der Popularisierung des Internet bezeichnete. „Wir sind wie Götter“, schreibt Brand im Vorwort, „und sollten unsere Fähigkeiten einsetzen.“ Der Katalog ist eine kunterbunte, riesige Sammlung an Weisheiten, technischen Diagrammen, Funktionsbeschreibungen und Waren-Empfehlungen, eine Art Bibel ökologisch gesinnter Nerds kurz vor der digitalen Revolution ( -> Quelle – Link zum PDF des Whole Earth Catalog – sehr lange Downloadzeit aufgrund der Dateigröße).

Ein Kumpel von Steve Jobs dreht die Stimmung: Atomkraft als wirksames Mittel gegen den Klimawandel

2009 veröffentlichte Brand sein Buch Whole Earth Discipline. Darin markiert er seinen Seitenwechsel von der Anti- zur Pro-Atomfraktion. Er schildert einen Besuch in der Endlagerstätte Yucca Mountain, gelegen in einem Stammesgebiet der Schoschonen im US-Bundesstaat Nevada. Ausgesucht worden war diese Stätte als Atomlager wegen ihrer geologischen Stabilität (und vielleicht auch deshalb, weil sie dort vor allem nur ein paar Indianer stören könnte). Das Lager war auf 10.000 Jahre Haltbarkeit konzipiert. Und genau diese 10.000-Jahre-Perspektive war es, die Brand umdenken ließ ( -> Quelle, Affiliate-Link zum Buch)

Wir verstanden, dass Yucca Mountain ein klassisches Beispiel für die Torheit derartiger Langfrist-Planungen ist – die Illusion, wir wüssten, wie wir das Richtige für die nächsten zehn Jahrtausende tun könnten.

Je detaillierter er darüber nachgedacht habe, desto absurder sei ihm die Idee eines Endlagers erschienen.

Die übliche Kritik [an der Atomkraft und Endlagerung] lautet: ‘Du musst garantieren, dass die gesamte Radioaktivität im Müll für zehntausend Jahre eingesperrt bleibt (oder besser 100.000 Jahre, nein: eine Million Jahre). Und wenn Du das nicht garantieren kannst, dann darfst Du keine Atomkraft haben.“ – Warum? – „Weil jegliches Quantum an radioaktiver Strahlung Menschen und andere Lebensformen verletzt. Es könnte ins Grundwasser sickern.“

Worauf Brand dann diesen Gedanken setzt:

Welche Menschen? Wir scheinen anzunehmen, dass Menschen in der Zukunft exakt so wären, wie wir heute. Mit unseren heutigen Sorgen und unserer heutigen Technik. Aber was wird in, sagen wir, nur 200 Jahren sein? Wenn wir und unsere Technik sich weiterentwickeln, dann wird die Menschheit bis dahin unvorstellbare Fähigkeiten besitzen, verglichen mit unseren heute. Sie werden sich um viel interessantere Dinge zu kümmern haben als um ein bisschen leicht zu entdeckende, verstreute Radioaktivität irgendwo in der Landschaft. Schauen wir mal zurück in die Steinzeit: Ein paar seltsame Dosen Radioaktivität von damals wären heute unser kleinstes Problem. Denn das Problem wird mit der Zeit nicht schlimmer, sondern es verschwindet mit der Zeit.

Und das, so Brand, unterscheide das Atommüllproblem fundamental von dem des Klimawandels. Der verschwinde nämlich mit Zeitablauf keineswegs einfach so. Das fundamentale Problem sei die Stromerzeugung mit Kohle, was jetzt nicht besonders originell oder neu ist (und schon beim Erscheinen seines Buches nicht war) – aber es ist nach wie vor die zentrale Erkenntnis. Anders als die deutschen Konsenspolitiker geht es für Brand freilich nicht um irgendwelche veralteten Rechthabereien, sondern um reale Veränderung.

Wenn sich Rollen verändern, dann haben sich auch Ideologien zu verändern. Ideologien hassen es aber, sich zu verändern. Das kann man mit Pragmatismus umgehen. […] Der Wandel geht viel tiefer, als dass nur eine Ideologie gegen eine andere ausgewechselt werden könnte. Der Wandel besteht darin, Ideologien insgesamt abzuschaffen.

Ein bisschen davon sickert nun endlich doch auch nach Deutschland. Nicht unbedingt bei den Grünen, die sind – all ihre Vorfeldorganisationen eingeschlossen – unverbesserlich ideologisch. Aber ein paar Fachleute gibt es, die neuerdings auch öffentlich auftreten und den deutschen Anti-Atomkonsens angreifen.

Endlich kommt die Ökomoderne auch in Deutschland an

Zu ihnen gehört etwa Reiner Moormann ( -> Twitter), bis zu seiner Pensionierung Experte für Reaktorsicherheit und Chemiker am Kernforschungszentrum Jülich. Oder Rainer Klute ( -> Twitter), Ex-Pirat, der den Verein Nuklearia führt. Oder die Technik-Historikerin Anna Vero Wendland ( -> Twitter), die nach und nach auch in Publikumsmedien als Expertin gefragt ist. Wendland propagiert den Begriff „Ökomoderne“. Sie fordert eine „Re-Alphabetisierung“ der Deutschen, nachdem die alte Ökobewegung sie beim Thema Atomkraft ent-alphabetisierte.

Die Killerfrage der Atomgegner, nämlich die nach der Endlagerung von Atommüll, beantwortete sie in einem Cicero-Interview so ( -> Quelle):

Das ist ein rein politisches, kein technisches Problem. Für die anti-Atom-orientierten Parteien war das fehlende Endlager ein Instrument, um die Betriebsgenehmigung von Kernkraftwerken anzufechten. Es gab also – ungeachtet legitimer Kritik in einzelnen Punkten – kein wirkliches Interesse an einer schnellen Endlagerfindung. Insofern ist es absurd, wenn Teile des linken Lagers nun beklagen, dass es kein Endlager gibt.

Absurd? Wohl eher vorsätzliche Taktik. In demselben Interview kritisiert Wendland auch die Dämonisierung der Gentechnik in Deutschland.

Auch hier wurde ein Mythos aufgebaut durch den Vorwurf, die Gentechnik sei ein unzulässiger Eingriff in die Ganzheitlichkeit von Naturzusammenhängen. Wobei vollkommen außer Acht gelassen wird, dass auch frühere Formen von Züchtung oder selbst die Öko-Agrarwirtschaft immer ein Eingriff und eine menschliche Manipulation von natürlichen Dingen gewesen ist. Auch die Kupferverbindungen, die Öko-Bauern auf ihre Felder ausbringen, sind nichts Natürliches. Diese Mythisierung muss man aufbrechen. Wir werden den Leuten Illusionen nehmen müssen über Öko.

Damit ist sie ganz nahe bei Stewart Brand und frontal auf Crashkurs mit Baldur Springmann, dem Urvater des grünen Irrationalismus.

Brand stellt in Whole Earth Discipline trocken fest, dass die Menschheit seit ihrem Erscheinen den Planeten „terraformed“ habe. Die Erde sei nicht mehr dieselbe wie vor 10.000 Jahren. Der Mensch sei mit dem Terraforming gut gefahren und werde künftig nur dann gut weiterfahren, wenn er es fortsetze – in diesem Fall: Das Klima ausbalanciere.

Das, so Brand, müssten nun endlich auch die Grünen (gemeint: Grüne weltweit) einsehen.

Zum Unglück für die Atmosphäre haben Umweltaktivisten dazu beigetragen, die karbonfreie Atomkraft in den 1970er und 1980er Jahren in den USA und Europa (außer Frankreich) zu stoppen. Grüne verantworten damit Gigatonnen an CO2 in der Atmosphäre. Ich war einer von denen und ich entschuldige mich.

Ob Angela Merkel, Markus Söder, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Svenja Schulze, Luisa Neubauer und all die anderen, die es immer noch nicht verstehen wollen, zu dieser Einsicht fähig sind?