Triage global pervers
Der Westen lässt Millionen Kinder auf der Welt sterben, um seinen Alten und Kranken das Leben ein bisschen zu verlängern
Der Westen lässt Millionen Kinder auf der Welt sterben, um seinen Alten und Kranken das Leben ein bisschen zu verlängern
Der grüne Politiker Boris Palmer hat völlig recht: Was Deutschland und der Westen gerade in Sachen Corona-Krise veranstalten, tötet weltweit Millionen Kinder. Zynisch ist nicht, was Palmer oder auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagen, zynisch ist das Kalkül von Merkel und Söder.
Die Weltwirtschaft werde bewusst in die Krise gefahren, stellt Palmer zutreffend fest. Denn der Stillstand ist ja genau das, was die Verbreitung des Virus stoppen soll – mit einer Begründung, die wieder einmal die abstoßende Seite des deutschen Politikerwesens zeigt, nämlich die moralinsaure. Mit Sätzen, die lauten: Jedes Leben zählt. Gesundheit geht über alles. Floskeln, denen man bestenfalls mit viel Anlauf widersprechen mag.
Palmer beherrscht das Spiel mit der Moral allerdings auch und dreht den Spieß einfach um. Wenn die industrialisierte Welt bewusst eine Weltwirtschaftskrise auslöse, treffe das auch die armen Länder. Und zwar heftig – als „Armutsschock“. Er berief sich in einem Sat-1-Interview auf die Uno und eine Schätzung, laut der dann Millionen Kinder sterben würden.
Die seien dann der Preis dafür, dass der Corona-Stillstand im Wohlstandsviertel des Globus andere Menschen rette. Palmer: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“
Dass Parteifreunde ihn jetzt deshalb kritisieren, er bediene „rechte“ Klischees und rede einer Welt das Wort, in der nur die Starken überleben dürfen, ist konfus. Tatsächlich tut er ja das Gegenteil. Palmer ergreift Partei für Kinder in Drittweltländern. Die dürften wohl eindeutig schwächer und machtloser sein als die größte Wählergruppe alternder westlicher Gesellschaften.
Möglicherweise unbeabsichtigt hat Palmer damit auch eine Verbindung zur Debatte über die Triage gelegt – also die Auswahl von Patienten, die im Falle zu knapper Ressourcen gerettet oder eben dem Tod preisgegeben werden müssten.
Die Triage tauchte für einige Tage immer wieder in den Medien auf, als über die Lage in Italien, Frankreich und Spanien berichtet wurde. Es gebe zu viele Corona-Kranke, die Kliniken seien überfordert, weshalb die Ärzte nicht mehr alle Kranken annehmen könnten. Diese Bericht waren fast durchweg verkürzt. Sie verschwiegen, dass für die Triage in allen zivilisierten Ländern – nicht nur Deutschland – klare ethische Regeln gelten.
Alter ist dabei nur ein Kriterium, aber beileibe nicht das allein entscheidende. Was zählt, ist die Frage, mit welcher Perspektive der Mensch aus der Behandlung kommen könnte. Lebenszeit und Lebensqualität werden beide berücksichtigt. Vermutlich findet sich niemand, der daran etwas falsch findet.
Wer nicht gerettet wird, sondern dem Tod übergeben, muss gleichwohl nicht auf jede Würde verzichten – womit wir bei Wolfgang Schäuble wären. Schäuble stellt fest, nicht das Leben sei der absolut gesetzte Zentralwert der Verfassung, sondern die Würde des Menschen.
Kann ein Kranker nicht gerettet werden, dann wirft man ihn nicht in die Ecke und lässt ihn ohne Würde verrecken. Vielmehr wird er palliativ behandelt, bekommt Schmerzmittel und wohl auch die eine oder andere Droge, die es ihm ermöglicht, schmerzfrei, möglichst heiter und mit so viel Würde wie möglich in den Tod zu gehen. Der Glaube erleichtert das würdige Sterben noch, weil die Erwartung auf den Himmel dem Tod das Grauen nehmen kann.
Kinder in Drittweltländern dürfen auf Würde-wahrende Sterbebegleitung nicht hoffen. Sie dürften zumeist einfach verhungern. Das ist ein sehr unangenehmer Tod. Es schmerzt. Der Tod kommt langsam. Er geht einher mit Dreck, Gestank und Elend. Das verhungernde Kind hat keine Liebe und keine Umarmung mehr zu erwarten. Je näher das Ende kommt, desto ekelhafter wird das Leben. Am Ende wimmert es nicht einmal mehr, weil die Kräfte schwinden. Es wird von Fliegen umschwirrt, die es nicht erwarten können, dass aus dem Kind ein Kadaver wird.
Würden wir ein paar Tonnen Heroin in solche Länder schicken und dafür sorgen, dass sie solchen Kindern gespritzt würden, wäre das im Vergleich zur alternativ- und debattenlosen globalen Corona-Triage human. Zumal die Gleichung noch nicht einmal aufzugehen scheint. Auch der sogenannte Lockdown kann nicht verhindern, dass Menschen an Corona sterben, und zugleich dürften Alternativen zum Lockdown hierzulande wohl auch kein Massensterben auslösen.
Foto: Adrianna Van Groningen bei Unsplash