Boris Johnson unter Druck der Demokratie: It’s the Mehrheitswahlrecht, Stupid!

Unterhaus sägt Johnson ab

In Großbritannien passiert, was in Deutschland undenkbar ist. Ein große Gruppe der eigenen konservativen Parlamentsfraktion fordert den Rücktritt des Premierministers. Das liegt nicht an spekulativen Dingen wie britischer Mentalität, irgendwelcher Tradition, der Queen o.ä., sondern an einer einzelnen knallharten, die Demokratie stärkenden Regel im Wahlgesetz – dem Mehrheitswahlrecht.

Es erweist sich gerade in der Krise als weise Regel und gut für die Demokratie. Deren unmittelbare und kausale Folge ist ein ausnehmend selbstbewusstes Parlament. Nirgendwo sonst hat der Volkssouverän eine derart starke Vertretung. Das britische Parlament ist damit auch das krasse Gegenteil des fetten, zahnlosen und exekutivhörigen deutschen Bundestags.

„Constituency“ statt Wahlkreis

Warum das Wahlrecht so durchschlagend wirkt, ist leicht zu verstehen. Jeder Parlamentarier  im Unterhaus wurde direkt von den Bürgern in seinem Wahlkreis gewählt. Es gibt keinen anderen Weg ins Parlament als die direkte Wahl im Wahlkreis.

Darum reden britische Parlamentarier ständig von den Menschen in ihrer „Constituency“, wenn sie im Unterhaus das Wort ergreifen. Es geht immer darum, was die Wähler von diesem oder jenem Gesetzvorhaben hielten.

„Constituency“ ist ein tolles Wort. Übersetzt heißt es Wahlkreis. Aber es hat einen ganz anderen Klang. Der deutsche Wahlkreis ist nur eine fad-bürokratische territoriale Abgrenzung. Die „Constituency“ ist sprachlich mit der „Constitution“ verwandt, also der Verfassung. Die Wähler und die Verfassung sind damit real und begrifflich die alltäglich und alltäglich unübersehbare Basis der Abgeordneten.

Somit ist auch die Loyalität britischer Parlamentarier eine andere als die deutscher MdB. Sie sind von ihren Wählern direkt abhängig und damit in starker Loyalität zu den Wählern in ihrer „Constituency“.

Wähler statt Pareibürokraten

Wenn nun also der Premierminister zu allzu extravaganten Eskapaden neigt, so müssen die Abgeordneten vor allem darauf schauen, wie das in der „Constituency“ ankommen mag und was die Wähler von ihnen erwarten. Wähler erwarten in der Regel nicht tumb-linientreues Parteisoldatentum. Vielmehr dürften sie sich wünschen, ihre Vertreter täten einfach das Richtige. In Deutschland wäre das derzeit z.B., zu beschließen, die Kernkraft länger laufen zu lassen.

Auch in Deutschland gibt es direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete, nämlich 299. Die direkt gewählten Abgeordneten sind damit in der hoffnungslosen Minderheit. Ihnen stehen 410 Kollegen gegenüber, die über Parteilisten ins Parlament rutschten.

Wer über die Liste Abgeordneter wird, hat andere Abhängigkeiten und Loyalitäten. Über seine Bestallung entscheidet ein Parteitag, nicht der Wähler. Er muss sich mit dem Funktionärskader seiner Partei gutstellen. Listenabgeordnete sind ihrer Partei und der Parteilinie verpflichtet. Die Wähler ihres Wahlkreises können ihnen völlig egal sein.

Und genau das macht den Unterschied. Listenabgeordnete folgen der Fraktionsdisziplin und der koalitionären Regierungslinie. Sie denken meist gar nicht nach, wie sie im Parlament abstimmen, sondern folgen einfach den Wünschen ihrer Oberen. Wer auffällt, macht sich unbeliebt.

Direktmandatare können im Zweifel auf ihre Parteien pfeifen. Manchmal müssen sie das sogar, um von ihren Wählern akzeptiert und wiedergewählt zu werden. Wenn eine Regierung Mist baut, dann spielt es eine zweitrangige Rolle, ob es die eigene oder die des anderen Lagers ist.

In den letzten Jahren ist in Deutschland viel über eine Wahlrechtsänderung diskutiert worden. Dabei ging und geht es immer nur um die Zahl der Parlamentssitze. Dabei wäre es viel wichtiger, darauf zu schauen, wie das Wahlrecht auf den Parlamentarismus und die Stärke der Demokratie wirkt.

Gelangweilte Listenparlamentarier blamieren die 1. Gewalt

Der derzeitige Vorschlag der Ampel-Fraktionen ist dabei der Gipfel der Unverfrorenheit. SPD, Grüne und FDP treiben damit nicht nur die Fixierung auf die Liste weiter voran, sondern wollen den Wählern gar vorschreiben, wen die zu wählen haben. Sollte eine Partei zu viele Direktmandate bekommen, so sollen einige davon einfach für ungültig erklärt werden und der Wähler für diese Fälle eine alternative Ersatzstimme abgeben. Das ist grotesk. Es macht aus der freien Wahl eine Karikatur.

SPD, Grüne und FDP sehen das natürlich anders, weil sie kaum Direktmandate besitzen. Sie müssten aufhören, über galaktischen Unfug zu schwadronieren und sich stattdessen aussichtsreiche Wahlreise aussuchen und darum kämpfen, dort einen Abgeordneten durchzubekommen. Das ist anstrengender, als in Parteigremien parteimodische Parteifloskeln zu verblasen.

Das derzeitige System mit seiner Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht wiederum taugt sowieso nicht mehr. Im Namen vermeintlicher Gerechtigkeit wurde es derart pervertiert, daß es den Bundestag auf 709 Abgeordnete aufgebläht hat. Mit der Riesenzahl zwar höchstbezahlter, aber gelangweilter und überflüssiger Abgeordneter stieg vor allem die Zahl peinlicher Tiktok-Videos aus dem Innern der 1. Gewalt im Staate.

Die wären schlagartig weg, müssten diese überflüssigen Dampfplauderer sich dem direkten Votum der Wähler ihrer Wahlkreise stellen.

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